Es wird halb so schlimm.

Stell dir vor, die Bundestagswahl in weniger als drei Wochen bringt das für dich denkbar schlechteste Ergebnis. Für dieses Gedankenexperiment ist es nicht wichtig, ob das „denkbar schlechteste Ergebnis“ Merkel, Steinbrück oder gar beide sind. Wie wird es dir dann gehen? Wie glücklich bist du dann auf einer Skala von 0 (todunglücklich) bis 10 (orgastische Dauereuphorie)?

Die gute Nachricht aus der psychologischen Forschung: Es wird vermutlich halb so schlimm. Wir überschätzen den Einfluß, den unangenehme Lebensereignisse – von der Niederlage der Lieblingsfußballmannschaft über die große Koalition bis hin zur Trennung von der Liebe des Lebens oder dem Versagen in einer Psychologieklausur – auf unsere Gefühle haben. Die schlechte Nachricht aus der psychologischen Forschung: Ebenso überschätzen wir den Einfluß, den angenehme Lebensereignisse – vom Sieg der Lieblingsfußballmannschaft über ein politisches Wunder bis hin zur Hochzeit oder dem Brillieren in einer Psychologieklausur –  auf unsere Gefühle haben.

Das darf man jetzt durchaus als Sieg der Küchenpsychologie werten, denn die emotionale Suppe, die dort köchelt, wird nie so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Womit wir mit den Küchenmetaphern für heute durch wären (…ich bekomme gerade Hunger) und zur eigentlichen spannenden Forschungsfrage kommen:

Warum ist das so?

Eigentlich ist es für uns höchst relevant, abschätzen zu können, wie wir uns nach einem Ereignis fühlen werden. Wenn ich erwarte, dass eine schlechte Note in der Klausur mich in eine wochenlange Depression stürzen wird, werde ich mich eher auf meine vier Buchstaben setzen, um die Nacht durchzubüffeln. Wenn ich erwarte, dass das Verzehren einer ganzen Tafel Schokolade (Edelbitter-Cranberry) mich glücklich machen wird, werde ich jetzt eher zum Süßigkeitenfach laufen (das übrigens erst seit ich hier wohne diesen Namen verdient hat, zuvor haben sich darin nur Sonnenblumenkerne und zuckerfreie [!] Pfefferminzbonbons befunden).

Antizipierte Gefühle helfen uns bei der Wahl der richtigen Handlung und je genauer unsere Vorhersagen, desto eher können wir unsere Entscheidungen optimieren. Damit wir aber an den Punkt gelangen, an dem wir ordentliche Vorhersagen treffen können, müssen wir eine Menge lernen. Und genau das scheint nicht zu funktionieren: Obwohl trotz der schlechten Note nicht die Welt untergeht, werde ich mir vor der nächsten Klausur immer vor Stress verrückt machen. Und obwohl die Tafel Schokolade mich nicht glücklich gemacht hat, werde ich die nächste kaufen (und zwar diesmal Nougat. Man beachte, dass das rein hypothetische Szenarien sind. Selbstverständlich hat sich die Tafel Edelbitter-Cranberry vom ersten bis zum letzten Stück wie erwartet positiv auf mein Wohlbefinden ausgewirkt).

Eine mögliche Erklärung ist, dass wir uns fälschlicherweise so an die Ereignisse erinnern, wie wir sie vorhergesagt haben. Wenn ich große Erwartungen an die Tafel Schokolade hatte, denke ich im Nachhinein eher, dass sie auch wirklich großartig war, selbst wenn sie in Wirklichkeit ein pelziges Gefühl auf meiner Zunge hinterlassen hat und ab der zweiten Hälfte einen leichten Brechreiz verursacht hat (was nicht der Fall war).

Meyvis, Ratner und Levav haben in einer Reihe von Studien, die 2010 veröffentlicht wurden, genau in die andere Richtung geforscht: Fälschlicherweise erinnern wir uns daran, genau die emotionalen Konsequenzen erwartet zu haben, die dann gekommen sind. Quasi so wie Politik-Experten, die im Nachhinein behaupten, sie hätten alle Ergebnisse bis zur zweiten Nachkommastelle exakt kommen gesehen. Mit der fatalen Konsequenz, dass sie vergessen haben, dass ihre Vorhersagen in Wirklichkeit lausig waren und sie lieber nicht so die Klappe aufreißen sollten.

In ihrer Studie ließen die ForscherInnen vor und nach dem Superbowl Fragebögen ausfüllen. Etwa 100 Studierende nahmen teil und sollten zunächst drei Tage vor dem entscheidenden Spiel angeben, wie glücklich sie sein würden, wenn ihre Lieblingsmannschaft gewinnen oder verlieren würde. Fünf Tage nach dem Spiel sollten sie angeben, wie glücklich sie tatsächlich waren – und ihre Prognose von der Vorwoche wiedergeben. Tatsächlich überschätzten die Eagle Fans den negativen Einfluß, den die Niederlage ihrer Mannschaft auf ihre Stimmung haben würde. Außerdem waren sie im Nachhinein der Meinung, dass ihre ursprüngliche Schätzung exakt gewesen wäre. Sie behaupteten also, dass sie vor einer Woche gewusst hätten, dass sie sich so fühlen würden, wie sie es jetzt taten.

Die Hypothese der Forscherinnen dazu lautet, dass wir uns so an unsere Vorhersagen erinnern, dass sie mit unserer aktuellen Stimmung übereinstimmen. In einem weiteren Experiment überprüften sie, ob das auch funktioniert, wenn man an der Stimmungslage der Teilnehmenden rumdoktort. Dafür nutzten sie den Umstand, dass praktischerweise in den USA gerade Vorwahlen für die Präsidentschaftswahlen 2008 stattfanden. Die Versuchspersonen sollten sich, nachdem sich Obama gegen Clinton durchgesetzt hatte, in die Zeit vor der Vorwahl zurückversetzen. Welche Einfluß auf ihre Stimmung hatten sie erwartet, wenn sich Obama durchsetzen würde? Erneut „erinnerten“ sich die Versuchspersonen daran, genau die Stimmung vorhergesagt zu haben, in der sie sich tatsächlich befanden. Der Clou bei der Sache: Die eine Hälfte hörte dabei Gustav Mahlers Adagietto, die andere lauschten Mozarts Nachtmusik. Wer Mozart auf die Ohren bekam gab nicht nur an, fröhlicher zu sein, sondern behauptete auch, schon im Februar geahnt zu haben, besonders glücklich zu sein, wenn Obama gewinnen würde. Dieser Effekt lässt sich schwer vereinbaren mit der Vorstellungen, dass wir uns gut an unsere Erwartungen erinnern. Außer natürlich, wir finden einen mysteriösen Mechanismus, wie Mozart im Juni rückwärts durch die Zeit bis in den Februar reist und dort unsere Vorhersagen manipuliert, was ich hier aus Platzgründen nicht weiter ausführen möchte.

Dafür, dass die falsch erinnerten Vorhersagen nicht ohne Konsequenzen bleiben, lieferten Meyvis et al. Belge in einem weiteren Experiment. Am Anfang des Semesters wurden Studierende gebeten, eine größere Anschaffung, die sie für das laufende Semester planen, aufzuschreiben. Dann sollten sie jeweils ankreuzen, wie glücklich sie dieser Kauf machen würde beziehungsweise wie sie sich fühlen würden, wenn sie ihn nicht tätigen. Zuletzt sollten sie noch angeben, wie groß sie den Effekt schätzen, den größere Anschaffungen ganz generell auf die Stimmung in der Woche nach dem Kauf haben.

Am Ende des Semesters kam der zweite Teil der Studie, in dem die Studierenden angeben sollten, ob sie die Anschaffung tatsächlich getätigt hatten und wie glücklich sie waren. Außerdem sollten sie sich an ihre Vorhersagen vom Anfang des Semesters erinnern und erneut angeben, wie sehr sie an den Einfluß von materiellen Anschaffungen generell auf das Wohlbefinden glauben.

Die Versuchspersonen, die den Kauf getätigt hatten, waren dadurch nicht so viel glücklicher geworden, wie zu Beginn des Semesters erwartet. Die Versuchspersonen, die den Kauf nicht getätigt hatten, waren dadurch nicht so viel weniger glücklich geworden, wie zu Beginn des Semester erwartet. Und es gab wieder eine generelle Tendenz, die erinnerte Vorhersage an das tatsächliche Wohlbefinden anzupassen. Allerdings galt das nicht für alle gleichermaßen: Bei manchen Versuchspersonen war der Erinnerungsfehler kleiner, sie erinnerten sich also, dass sie den Einfluß der (Nicht-)Anschaffung ursprünglich überschätzt hatten. Und genau diese Versuchspersonen lernten aus der Erfahrung: Im Vergleich zum Anfang des Semesters schätzten sie nun den Einfluß von materiellen Anschaffungen auf das Wohlbefinden geringer (und damit realistischer) ein. Man könnte auch sagen: Dadurch, dass sie ihren (Vorhersage-)Fehler erkannt haben, konnten sie eine der großen Lügen des Kapitalismus entlarven, aber das klingt vielleicht ein bisschen zu dramatisch. Weniger dramatisch: Um aus Fehlern zu lernen, muss man erstmal erkennen, dass man einen Fehler gemacht hat. Womit wir doch wieder bei der Küchenpsychologie gelandet wären.

Wenn wir lernen wollen, den emotionalen Einfluß, den Ereignisse auf uns haben, besser einzuschätzen – beispielsweise, um rauszufinden, ob sich das stundenlange Lernen oder die ganze Tafel Schokolade tatsächlich lohnen (zu zweiterem: Ja!) – müssen wir uns sicherstellen, dass wir nicht unsere Erwartungen, die wir zuvor hatten, vergessen. Eine Möglichkeit wäre es, sie jemandem vertrauenswürdigen mitzuteilen, der sie dir dann süffisant unter die Nase reibt („Ich hab dir doch gesagt, dass die Welt nicht untergehen würde“). Die vielleicht angenehmere Methode ist es, sie schriftlich festzuhalten („Liebes Tagebuch, wenn ich keine 1 vor dem Komma habe werde ich bestimmt sterben“). Leider bewahrt das alles nicht vor den nervigen Zeitgenossen, die immer alles „kommen gesehen“ haben. Und leider bewahrt uns das auch nicht vor der nächsten Bundestagswahl.

Ich sag’s euch, das wird schlimm. Mindestens doppelt so schlimm.

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4 Antworten zu Es wird halb so schlimm.

  1. Mario schreibt:

    „Meister Ittei sagte: ‚Konfuzius wurde weise, weil er mit 15 Jahren beschloss, ein Gelehrter zu werden. Er wurde nicht dadurch weise, dass er später studierte.‘ Das entspricht dem buddhistischen Sprichwort: ‚Erst die Absicht, dann die Erleuchtung.‘ Aus dem „Hagakure“

  2. Malte schreibt:

    …aber die Frage, die bleibt, ist doch: Was für eine Tafel Schokolade war es?

    • juliarohrer schreibt:

      Ich mache hier ja keine Schleichwerbung, aber ich muss sagen: Vivani, ich bereue nichts. Oder sagen wir fast nichts, auf den Tempelhofer Feld wäre sie mir gegen Ende der zweiten Runde fast wieder hochgekommen. Merke: vor dem Joggen nur eine halbe Tafel.

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